Nienburg (ots) - Auf Einladung der Polizeiakademie Niedersachsen hat die Rechtspsychologin und Forscherin auf dem Gebiet der Pseudoerinnerungen Dr. Julia Shaw am 14. November 2016 über ihre Forschung zum Thema "Trügerisches Gedächtnis - wie unser Gehirn Erinnerungen fälscht" gesprochen.
Der Direktor der Polizeiakademie Dieter Buskohl hieß die 220 Anwesenden, die aus einer Vielzahl von Polizeibehörden und -dienststellen in Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern angereist waren, herzlich willkommen.
Die Ankündigung des Vortrags erzeugte bei den polizeilichen Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeitern großes Interesse. Die 28 Jahre alte Dr. Julia Shaw, die in Deutschland geboren und in Kanada aufgewachsen ist, doziert und forscht an der London South Bank University. Dr. Shaw lehrt Kriminologie und Psychologie und hat bereits zwei Universitätslehrpreise gewonnen. Sie ist in ihrem Forschungsgebiet eine der führenden Kapazitäten und veröffentlicht regelmäßig Artikel und Lehrbücher. Ihre Forschung zur Fälschung von Erinnerungen enthält auch für die Polizei wichtige Aspekte.
Im ersten Teil ihres Vortrags befasste Dr. Julia Shaw sich mit dem Aufbau des Gedächtnis`. Sie ging auf unsere Erinnerungen als multisensorisches Netzwerk im Gehirn ein. "Unsere Sinne brauchen Reize und Aufmerksamkeit, damit wir uns etwas merken können." so Dr. Shaw. Dafür müsse man beispielsweise einen Menschen mit einer Situation, einem Gefühl oder einer Sinneswahrnehmung wie einem Geruch verknüpfen, um sich seinen Namen schnell merken zu können. Etwas Adrenalin sei dabei für das Gehirn gut, um die Erinnerung durch Aufmerksamkeit zu aktivieren. Zu viel Stress, Emotion und Adrenalin würden die Gedächtnisfunktion jedoch schmälern. Fakt sei: ohne Aufmerksamkeit keine Erinnerung! "Multitasking gibt es nicht - nicht für Männer und nicht für Frauen!" stellte die Wissenschaftlerin klar. Wir könnten nur schnell von einem zum anderen wechseln, würden dabei aber auch Details verlieren.
Falsche Erinnerungen könne man durch eine falsche Verknüpfung im Gehirn haben erläuterte Dr. Shaw. Oder wir würden zu "Erinnerungsdieben", da wir nach einer plastischen Erzählung glaubten, uns an etwas selbst Erlebtes zu erinnern.
Für jede unserer Erinnerungen gelte: "Wenn man sich erinnert, erinnert man sich an seine letzte Erinnerung." Deshalb verändere sich beim mehrmaligen Wiederholen eine Erzählung immer ein bisschen. Dies gehöre zur menschlichen Normalität, erklärte die Forscherin.
Shaw zitierte die Psychologin Elisabeth Loftus: "Gedächtnis ist wie Wikipedia", man kann selber etwas verändern, andere können es aber auch." Hierauf beziehe sich ihre Forschungsarbeit aus dem Jahr 2015. In ihrer Studie habe sie es geschafft, 70 Prozent von ihren Probanden nach drei Sitzungen zu überzeugen, dass sie in ihrer Jugend eine Straftat begangen hätten. Wie kam es, dass sie sich bereitwillig an eine Straftat erinnerten, die sie nie begangen hatten? Dr. Shaw befragte die Eltern der Probanden zu starken emotionalen Ereignissen in deren Jugend und verband diese in den Gesprächen mit dem Vorwurf der Straftat und der Frage wie sich dies emotional angefühlt habe. Sie habe falsche Informationen mit geleiteter Imagination und Suggestion verbunden: "Es entstanden in kürzester Zeit falsche Erinnerungen voller bunter Details, die sich für die Teilnehmer echt anfühlten."
Durch ihre Forschung ergeben sich wichtige Anhaltspunkte für polizeiliche Vernehmungen, auf die Dr. Shaw im zweiten Teil ihres Vortrags einging. Es sei schwer zu erkennen, ob jemand in der Vernehmung lüge oder eine falsche Erinnerung habe, die für ihn echt wirke. "Details, Emotionen und Selbstsicherheit machen eine Erinnerung noch nicht wahr!" so Dr. Shaw. Wichtig sei es für die Polizei Informationen mit offener Fragestellung in der allerersten Kontaktaufnahme schriftlich festzuhalten, da sich die Erinnerung bei jeder weiteren Befragung verändere.
Den Satz "Verdrängung gibt es nicht!" bezeichnete die Rednerin als ihre kontroverseste Aussage des Tages. Sigmund Freud habe von Verdrängung gesprochen, sei jedoch kein Wissenschaftler gewesen. Es gebe keinen empirischen Beweis, dass es ein Unterbewusstsein gibt. Dr. Shaw: "Ich wäre vorsichtig, wenn sich jemand nach 50 Jahren plötzlich wieder an ein Ereignis erinnert!"
Nach weiteren Tipps zur Vernehmungstechnik und der Vermeidung von Pseudoerinnerungen schlossen sich sehr viele interessierte Fragen aus dem Plenum an. An die Antwort, dass es sehr individuell sei an wieviel aus der Kindheit man sich erinnere, schloss Dr. Shaw scherzhaft an: "Leben Sie im Jetzt, der Rest ist Fiktion!"
Im Anschluss stellte Dr. Julia Shaw ihr Buch "Das trügerische Gedächtnis" vor, das vom Hanser Literaturverlag zum Buch der Woche gewählt wurde.
Der Direktor der Polizeiakademie verabschiedete Dr. Shaw und zeigte sich überzeugt, dass die Polizeiakademie mit Vorträgen über aktuelle Forschungen ein wichtiges Themengebiet anfasse. Dies bestätige die hohe Zahl der Anmeldungen und das große Interesse an der Fragerunde. "Die Polizei kann wissenschaftliche Erkenntnisse noch mehr in ihre strategische Ausrichtung einbeziehen" so Buskohl.
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