Pressemitteilung Amoktat vom 9. März 2023:
Ermittlungen gegen Mitglieder des Prüfungsausschusses (auch) wegen
gesetzlicher und behördlicher Mängel eingestellt
Die Generalstaatsanwaltschaft Hamburg - Zentralstelle Staatsschutz - hat das im Zusammenhang mit der Amoktat vom 9. März 2023 stehende Ermittlungsverfahren gegen drei Mitglieder eines im Hanseatic Gun Club (HGC) tätigen waffenrechtlichen Prüfungsausschusses wegen des Verdachts der Falschbeurkundung im Amt (siehe insoweit Presse-mitteilung der Generalstaatsanwaltschaft vom 27. April 2023) eingestellt, weil die Schuld der Beschuldigten K., S. und B. als gering anzusehen wäre und kein öffentliches Strafverfolgungsinteresse (mehr) vorliegt (§ 153 Absatz 1 der Strafprozessordnung). Maßgeblich für diese Entscheidung waren auch gesetzliche und behördliche Mängel bei der Umsetzung der für den Erhalt einer Waffenerlaubnis notwendigen Sachkundeprüfung (§ 7 Absatz 1 Waffengesetz). Im Einzelnen:
1. Feststellungen zum Ablauf der Sachkundeprüfung betreffend Philipp F.
Die Sachkundeprüfung des späteren Attentäters Philipp F. verlief nach dem Wesentlichen Ermittlungsergebnis der Generalstaatsanwaltschaft mutmaßlich wie folgt:
Nachdem Philipp F. einen Vorbereitungskurs für die Prüfung zur Abnahme der Sachkunde bei dem Beschuldigten K. besucht hatte, nahm er am 28. April 2022 an einem Prüfungsdurchgang mit insgesamt acht Prüflingen in den Räumen des HGC teil. Die Prüfung wurde von dem Beschuldigten K. als Vorsitzenden und den Beschuldigten S. und B. als Beisitzer eines dreiköpfigen Prüfungsausschusses durchgeführt. Jener Durchgang war bei der Waffenbehörde in Hamburg am 11.04.2022 angemeldet worden.
Im Rahmen der theoretischen Prüfung, die allein der Beschuldigte K. abnahm, füllte F. einen Bogen mit vom Bundesverwaltungsamt vorgegebenen Fragen aus, beantwortete dabei mehr als die Hälfte zutreffend und erzielte ein Ergebnis von 75 (von vermutlich 100) Punkten. Damit erfüllte er die dem Beschuldigten K. für seine Tätigkeit als Prüfer von der Waffenbehörde des Kreises Segeberg im Jahr 2008 individuell erteilte und somit zugleich bundesweit geltende Auflage, wonach für das Bestehen des theoretischen Teils der Sachkundeprüfung (nur) mehr als 50% der Fragen richtig beantwortet werden mussten.
Der praktische Teil der Sachkundeprüfung, bei der lediglich die Beschuldigten S. und B. anwesend waren, umfasste die Abgabe von jeweils sechs Schüssen mit einer Pistole und einem Revolver (behördliche Auflage gegenüber K.: je fünf Schüsse) bei mindestens drei Treffern sowie fünf Schüssen mit einer Vorderschaftrepetierflinte bei mindestens fünf Treffern (behördliche Auflage gegenüber K.: vier Treffer) auf einem Schießstand des HGC aus einer Distanz von 25 Metern auf eine (wohl) 50 x 50 cm große Scheibe. Die Prüfungsleistung des F. wurde von dem Ausschuss an diesem Tag als nicht bestanden gewertet.
Am 24. Oktober 2022 führte der Beschuldigte S. (Mitarbeiter des HGC) sodann eine "Nachprüfung" des praktischen Teils der Sachkundeprüfung mit Philipp F. (Vereinsmitglied seit September 2021) in den Räumen des HGC durch. Dieser Prüfungsteil wurde der Waffenbehörde in Hamburg nicht angezeigt. Der Beschuldigte S. verlangte von F. erneut die Abgabe von jeweils sechs Schüssen mit Revolver und Pistole sowie fünf Schüssen mit der Flinte. Die Prüfung wurde nunmehr als bestanden erachtet, da F. bei sämtlichen Versuchen die Scheibe getroffen haben soll. Das Ergebnis ("bestanden") teilte der Beschuldigte S. dem Beschuldigten K. allerdings nur per WhatsApp-Nachricht mit.
Das abschließende Sachkundezeugnis wurde von den Beschuldigten bereits vor Beginn der (ersten) Sachkundeprüfung unter dem Datum 28. April 2022 unterzeichnet. Es attestiert F., er habe die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten im Schießen jeweils mit Kurz- und Langwaffen (Anm.: Plural) nachgewiesen. Das Zeugnis wurde F. am 1. oder 3. November 2022 ausgehändigt. Unter anderem basierend darauf erteilte ihm die Waffenbehörde in Hamburg am 6. Dezember 2022 eine Waffenbesitzkarte. Hiernach durfte F. die schon am 28. Januar 2022 über den HGC erworbene, bis dahin jedoch nur verschlossen in deren Vereinsräumen verwahrte halbautomatische Pistole Heckler Koch P 30 L, Kaliber 9 mm, an sich nehmen, sie unter entsprechenden Schutzvorkehrungen in seiner Privatwohnung lagern und sich selbst große Mengen an passender Munition verschaffen. Die Eintragung der Pistole in der Waffenbesitzkarte erfolgte am 12. Dezember 2022. An diesem Tag besuchte F. auch zum letzten Mal den HGC.
2. Verfahrensmängel bei der Sachkundeprüfung
Die Untersuchung der obigen und weiterer Sachkundeprüfungen unter Beteiligung der Beschuldigten K., S. und B. erbrachte keinerlei Anzeichen dafür, dass Sachkundezeugnisse wider besseres Wissen, mithin in Kenntnis einer tatsächlich nicht vorhandenen Sachkunde, erteilt wurden. Bei der Sichtung von Unterlagen des Beschuldigten K. aus den Jahren 2009 bis 2023 ist die Generalstaatsanwaltschaft jedoch auf zahlreiche Verfahrensmängel gestoßen, die einen ordnungsgemäßen Nachweis infrage stellen:
- Entgegen einer dem Beschuldigten K. von der Waffenbehörde des
Kreises Segeberg als Prüfer verhängten Auflage wurden
Schießleistungen überwiegend nur an drei anstatt vier Waffen erbracht
(keine Prüfung mit dem Repetiergewehr, siehe Fall F.). - Das Ergebnis der praktischen Prüfung (Trefferbild) wurde
teilweise nicht oder nur grob und unverständlich dokumentiert.
Insbesondere war nicht durchweg ersichtlich, mit welcher Waffe
welches Trefferbild erzielt wurde und wieviel Schüsse mit jeder Waffe
abgegeben wurden. Mitunter wurden eigentlich unzureichende
Trefferbilder auch (eventuell irrtümlich) als "bestanden" gewertet.
Die Schuss- und Trefferzahl entsprach ebenfalls nicht der K.
erteilten Auflage. - Ein neben losen Aufzeichnungen vom Vorsitzenden des
Prüfungsausschusses unterschriebenes (und somit amtlich
zertifiziertes) Protokoll über den Gesamtverlauf der Prüfung und die
dabei erzielten Ergebnisse war nicht vorhanden. Eine etwaige
"Nachprüfung" wurde überhaupt nicht verschriftet. Sie erschöpfte sich
nur in der Mitteilung ihres Bestehens (siehe Fall F.). - Der theoretische und der praktische Prüfungsteil wurden von der
Kommission arbeitsteilig vorgenommen, mithin nicht in ständiger und
sich dadurch gegenseitig kontrollierender Anwesenheit aller
Ausschussmitglieder. Meist erfolgte die theoretische Prüfung durch
den Vorsitzenden, die praktische Prüfung durch die beiden Beisitzer. - Falls der ursprünglich fixierte und der Hamburger Waffenbehörde
mitgeteilte Prüfungstermin (etwa wegen plötzlicher Verhinderung eines
Prüflings) ausfiel, nahm der Beschuldigte S. die gesamte
(unangemeldete) Sachkundeprüfung ohne entsprechenden Hinweis im
Sachkundezeugnis alleine vor. - Bei Nichtbestehen des praktischen Teils wurde die
Sachkundeprüfung nicht offiziell wiederholt, sondern ging in eine von
dem Beschuldigten S. geführte "Nachprüfung" über, die teilweise erst
fünf bis sechs Monate nach der theoretischen Prüfung stattfand. Auch
dieser Termin und der Fehlschlag während der vorherigen Prüfung
wur-den der Waffenbehörde nicht mitgeteilt. - Der Waffenbehörde ebenfalls nicht angezeigt wurden Änderungen in
der personellen Zusammensetzung des Prüfungsausschusses, wie etwa am
28. April 2022 (Prüfungsdurchgang F.), wo anstelle des Beschuldigten
B. ursprünglich ein anderer Beisitzer vorgesehen und der
Waffenbehörde gemeldet worden war. - Sachkundezeugnisse wurden - zum Teil von allen drei
Ausschussmitgliedern - blanko im Voraus unterschrieben und
hinsichtlich des Bestehens der Prüfung auf den angesetzten
Prüfungstermin datiert, obwohl die Prüfung zuweilen erst wesentlich
später stattfand (ggf. auch erst im Wege eine "Nachprüfung", Fall
F.).3. Strafrechtliche Bewertung
Nach dem Ermittlungsergebnis ist der Beschuldigte K. der Falschbeurkundung im Amt (§ 348 Absatz 1 des Strafgesetzbuchs) in mindestens 11 Fällen, der Beschuldigte S. in mindestens 9 Fällen und der Beschuldigte B. in mindestens 6 Fällen (jeweils einschließ-lich der Sachkundeprüfung des Amoktäters Philipp F.) hinreichend verdächtig. Als Mitglieder des Prüfungsausschusses und in dieser Funktion mit der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben von der Waffenbehörde oder den Vorsitzenden des Prüfungsausschusses beliehene Amtsträger waren die Beschuldigten befugt, Sachkundezeugnisse zu erteilen. Bei ihnen handelt es sich um "öffentliche Urkunden", da sie zum Nachweis der Sachkunde im Umgang mit Schusswaffen und hiernach dem Erhalt einer Waffenbesitzkarte dienten.
Rechtlich falsch ist - auch hinsichtlich des F. - nicht das daraus hervorgehende Ergebnis "bestanden", denn es stimmte trotz vieler Verfahrensfehler, die für sich genommen oder in ihrer Gesamtheit keine Nichtigkeit ergaben, mit dem Votum der Beschuldigten überein. Das konkrete "Wie" des Bestehens (Anforderungsprofil, äußere Rahmenbedingungen, Prüfabläufe, Testmethodik, prozentualer Anteil richtig beantworteter Fragen, Waffenart, Trefferbild usw.) wird im Sachkundezeugnis nicht dokumentiert. Es ist ein reines Ab-schlusszertifikat.
Gleichwohl enthielten die hier fraglichen Urkunden objektiv falsche Tatsachenangaben. Durch die Formulierung, der jeweilige Prüfling habe die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten im Schießen mit Kurz- und Langwaffen nachgewiesen, wurde zum einen der sachlich unzutreffende Eindruck erweckt, es habe ein Beschuss mit mehreren "Langwaffen", also nicht nur mit der Vorderschaftrepetierflinte, stattgefunden.
Falsch ist zum anderen das jeweilige Datum der als "bestanden" gewerteten Sachkundeprüfung. Es bezog sich in Wahrheit nur auf denjenigen Tag, an dem die Prüfung anberaumt und der Waffenbehörde mitgeteilt worden war. Die Prüflinge hatten ihre Kenntnisse und Fähigkeiten jedoch weder (vollständig) unter dem angegebenen Datum unter Beweis gestellt, noch wurde deren Sachkunde von den Mitgliedern des Prüfungsausschusses im Hinblick darauf bescheinigt. Entgegen einer den Beschuldigten B. betreffenden Beschwerdeentscheidung des Landgerichts Hamburg vom 7. Dezember 2023 nimmt das in der Urkunde attestierte (falsche) Datum nach Auffassung der Generalstaatsanwalt-schaft auch am "öffentlichen Glauben" teil, da es eine fortwährende Prüfung der Aktualität und damit der Validität des Sachkundenachweises im Hinblick auf einen etwaigen Rücknahme- oder Widerrufsgrund für die Waffenerlaubnis ermöglicht (vgl. § 45 des Waf-fengesetzes/WaffG).
Den jeweiligen Urkunden ließ sich jedoch unter anderem nicht entnehmen, dass die Sachkundeprüfung in ständiger Anwesenheit aller Mitglieder des Prüfungsausschusses sowie tatsächlich nur an einem einzigen Tag vorgenommen wurde. Mehrere weitere Verfahrensmängel (fehlende Niederschrift über das Prüfergebnis, fehlende Unterzeichnung durch den Vorsitzenden des Prüfungsausschusses, zeitliche Aufsplittung der Prüfungsteile, Nichtunterrichtung der Waffenbehörde usw.) manifestieren zwar zum Teil erhebliche Verstöße gegen die Vorschriften der Allgemeinen Waffengesetz Verordnung (AWaffV) oder die dem Beschuldigten K. von der Waffenbehörde des Kreises Segeberg erteilten Auflagen (siehe oben). Strafrechtlich sind sie hingegen allesamt nicht von Belang.
4. Einstellungsgründe
Gemessen daran wäre die ebenfalls nur unter Strafaspekten zu würdigende Schuld von K., S. und B. als eher gering einzustufen (§ 153 Absatz 1 der Strafprozessordnung). Wegen komplexer, teils in sich widersprüchlicher, andererseits wiederum fehlender gesetzlicher Vorgaben zum genauen Ablauf der Sachkundeprüfung (zum Beispiel einer "Prüfungsordnung") ist bereits zweifelhaft, ob die Beschuldigten das hier begangene, nur "formelle", Unrecht ausreichend erkannt haben oder im Bestreben um eine anhand ihrer eigenen Wertmaßstäbe durchaus sorgfältige und gewissenhafte Prüfung der waffenrechtlichen Sachkunde hätten ausreichend erkennen können. Dies gilt umso mehr, als frühere Individualauflagen aus Schleswig-Holstein mit zum Teil anderslautenden und geänderten Regelungen im Waffenrecht abgeglichen sowie in ihrer - teils umstrittenen - Auswirkung auf das Prüfungsverfahren juristisch eingeordnet werden mussten.
Die strafwürdigen Falschangaben bezweckten aus Sicht der Beschuldigten auch keineswegs, etwaiges Fehlverhalten zu verschleiern. Sie beruhten überwiegend auf pragmatischen Gründen, da der Beschuss mit einer weiteren Langwaffe (Repetiergewehr) nach einer im HGC nicht vorhandenen Schießbahn mit einer Distanz von 100 Metern verlangt hätte. Die falsche Datierung der Sachkundeprüfung wurde von den Beschuldigten wegen organisatorischer Unwägbarkeiten bei der Unterschriftsleistung vornehmlich als Akt der Arbeitserleichterung interpretiert (Vermeidung eines weiteren Präsenztermins).
Zu berücksichtigen war fernerhin, dass die Hamburger Waffenbehörde offenbar aus Kapazitätsgründen davon absieht, einer örtlichen Sachkundeprüfung als "weiterer Beisitzer im Prüfungsausschuss" (§ 3 Absatz 4 Satz 3 Nummer 2 AWaffG) beizuwohnen sowie eine stichprobenartige Kontrolle von Prüfunterlagen vorzunehmen und dadurch die jeweiligen Prüfabläufe im Zuge der gebotenen Fachaufsicht zu überwachen.
Ein öffentliches Strafverfolgungsinteresse gegenüber den nicht vorbestraften und größtenteils kooperativen Beschuldigten bestand nicht. Im Falle einer aus Rechtsgründen keineswegs sicheren Verurteilung hätten diese nur mit einer eher unterdurchschnittlichen Geldstrafe zu rechnen. Das wegen der Amoktat vom 9. März 2023 übergroße öffentliche Aufklärungsinteresse im Hinblick auf die Sachkundeprüfung wurde bereits durch die ein-gehenden und erschöpfenden Ermittlungen der Generalstaatsanwaltschaft gestillt. Einer darüber hinausgehenden Anklageerhebung bedurfte es nicht.
Hamburg, den 14. Februar 2024
Oberstaatsanwältin Liddy Oechtering
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